Sitzen und Hocken – die Biologie menschlicher Inaktivität
Aktivitätsmonitoren, Stehpulten sowie Smartphones und Uhren, all dies soll uns dazu ermutigen, uns von unseren Vier-Buchstaben zu erheben. 10.000 Schritte pro Tag sollen es mindestens werden. Nicht länger als 15 Minuten in einer sitzenden Position verbringen. Wir sollen uns mehr bewegen um Kalorien zu verbrauchen.
All diese Bemühungen basieren auf einer wachsenden Anzahl von Studien, die darauf hinweisen, dass zu viel Zeit im Sitzen mit einer Vielzahl von Gesundheitsrisiken verbunden ist. Und auf der anderen Seite zeigen viele Studien, dass es tatsächlich nur sehr wenig Zeit außerhalb des Sitzens braucht, um die Gesundheit deutlich zu verbessern.
Dies ist eine etwas eigenartige Reihe von Erkenntnissen, da viele andere Säugetiere einen auf Trägheit optimierten Lebensstil haben (einschließlich natürlich des Faultiers). Das hat zur Idee geführt, dass die jüngste evolutionäre Geschichte der Menschheit, in der wir Millionen von Jahren als Jäger und Sammler verbracht haben, uns auf einen aktiven Lebensstil optimiert hat. Der sesshafte Lebensstil entwickelter Volkswirtschaften ist an sich nicht schlecht für uns; er stellt lediglich eine Diskrepanz zu unserem Stoffwechsel dar.
Aber gibt es irgendwelche Beweise dafür? Eine Gruppe von Forschern hat mit einigen modernen Jägern und Sammlern zusammengearbeitet und festgestellt, dass die Antwort sowohl Ja als auch Nein lautet. Obwohl die Jäger und Sammler noch sesshafter sind als die Menschen in einer industrialisierten Nation, verbringen sie tendenziell mehr Zeit in Kniebeugen und knienden Positionen - Aktivitäten, die mehr Muskeltätigkeit erfordern als das Sitzen auf einem Stuhl.
Activity-Tracker trifft auf die Hadza
Wie findet man heraus, wie Jäger und Sammler ihre Zeit verbringen? Im Fall der neuen Forschung bittet man sie, einen Aktivitätstracker zu tragen. Achtundzwanzig Mitglieder des Hadza-Volkes in Tansania stimmten zu, das Gerät etwas über eine Woche lang zu tragen. Anschließend wurde Software verwendet, um ihre Aktivität in 15-Sekunden-Intervallen zu verfolgen.
Nicht so viel Aktivität wie erwartet
Die große Überraschung der Studie: Es gab wirklich nicht so viel Aktivität. Der typische erwachsene Hadza verbrachte fast 10 Stunden seiner Wachzeit ohne jede erkennbare Bewegung. Das ist mehr als in den Niederlanden und den USA, wo es etwa 9 Stunden sind, und über eine volle Stunde mehr an sitzender Zeit als beim durchschnittlichen Australier. Die Hadza hatten im Durchschnitt etwas längere Inaktivitätsphasen und wechselten öfter zwischen aufrechter Haltung und Ruhe als Europäer, aber es gab viel Variation zwischen den Individuen, so dass diese Unterschiede statistisch nicht signifikant waren.
Es gibt jedoch zwei große Unterschiede zwischen den Jägern und Sammlern und denen in industrialisierten Gesellschaften. Der erste Unterschied besteht darin, dass die Hadza, wenn sie aktiv sind, in der Regel sehr aktiv sind und leicht die US-Empfehlungen für körperliche Aktivität pro Tag übertreffen. Der zweite Unterschied besteht darin, wie die Hadza ihre Zeit verbringen, wenn sie nicht aktiv sind.
Die Forscher machten auch stündliche Beobachtungen der Hadza während der Wachstunden. Diese wurden verwendet, um festzustellen, was diejenigen, die Aktivitätstracker trugen, in Ruhe taten. Wenn sie inaktiv waren, wurde ihre Körperhaltung erfasst.
Die tiefe Hocke als natürliche Sitzposition
Es war sehr selten, einen der Hadza auf einem Baumstamm oder Felsen sitzen zu sehen, als ob es ein Stuhl wäre; stattdessen verbrachten sie etwa die Hälfte ihrer Zeit sitzend auf flachem Boden. Aber sie verbrachten auch Zeit in Positionen, die in industrialisierten Gesellschaften selten sind: kniend und hockend. Diese beiden Positionen machten mehr als ein Drittel der sitzenden Zeit der Hadza aus. Die Forscher verwendeten Elektroden, um die Muskelaktivität in den Beinen der Individuen zu verfolgen, während sie sich in diesen Positionen befanden, und stellten fest, dass dabei mehr Muskelarbeit erforderlich war als beim einfachen Sitzen auf einem Stuhl.
Das große Ganze
Diese Positionen erfordern nicht so viel Muskelaktivität wie Gehen, aber sie sind eine aktivere Form des Sitzens. Dennoch vermuten die Autoren, dass dies dazu beitragen könnte, einige der Indikatoren für Herzgesundheit zu erklären, die bei den Hadza besser sind als in industrialisierten Gesellschaften.
Dass dies der Fall ist, ist eher unwahrscheinlich, unterscheidet sich doch die Lebensweise der Hadza in vielen Bereichen signifikant von Menschen in westlichen Industrieländern. Mit dem Großteil ihrer Nahrung, die aus der umliegenden Landschaft stammt, haben die Hadza eine sehr unterschiedliche Ernährung als Menschen in industrialisierten Ländern. Und wie oben erwähnt, sind die Hadza tendenziell auch aktiver. Beide Faktoren könnten wesentlich zu den besseren Anzeichen für Herzgesundheit bei den Hadza beitragen. Außerdem leben sie im Rhythmus der Jahreszeiten und Tageszeiten, haben ein aktives Sozialleben und verstecken sich nicht vor der Sonne.
Sitzen ist ein Marker für ein allgemein ungesundes Leben
Sehr fraglich ist, ob bzw. in welchem Ausmaß die reduzierter Herzgesundheit oder um genauer zu sein, die schlechtere Gesamtgesundheit, die in sesshaften industrialisierten Gesellschaften beobachtet wird, auf eine Diskrepanz zwischen unserer Aktivität und unserer evolutionären Geschichte zurückzuführen sind. Gerade die Ernährung scheint hier einen wesentlich größeren Einfluss zu haben.
Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Daten aus Beobachtungsstudien kommen und hier nicht zwischen Assoziation und tatsächlichen kausalem Zusammenhang unterschieden werden kann. Das heißt, Menschen, die viel sitzen, könnten auch andere ungesunde Gewohnheiten haben, die sich negativ auf die Gesundheit auswirken.
Bewegung und Positionswechsel sind wichtig
Was jetzt auf keinen Fall hängen bleiben sollte ist, dass es egal ist wenn wir den ganzen Tag zusammengekrümmt vor dem Bildschirm hocken. Stundenlang in der gleichen Position zu verharren ist definitiv nicht gesund. Es kommt zu Haltungsschäden, verkürzten Faszien und in Folge zu Fehhaltung und Fehlbelastung. Gelenke, Sehnen, Bänder und Knochen muss belastet werden um flexibel und stark zu werden und zu bleiben.
Interessiert dich das Thema „artgerechte Bewegung“? Dann höre dir mein Interview mit Tim Böttner an.
Quellen
Raichlen, David A., et al. "Sitting, squatting, and the evolutionary biology of human inactivity." Proceedings of the National Academy of Sciences 117.13 (2020): 7115-7121.
O’Keefe, Evan L., and Carl J. Lavie. "A hunter-gatherer exercise prescription to optimize health and well-being in the modern world." Journ al of Science in Sport and Exercise 3 (2021): 147-157.
Yamauchi T, Sato H, Kawamura K. Nutritional status, activity patten, and dietary intake among the Baka Hunter-Gatherers in the village camps in Cameroon. Afr Study Monogr. 2000;21:67–82.
Bildquellen: